Code of Theater
Labor für plastisches Denken

                              00 Algorithmus und Zufall

 
Jedes Spiel auf der Bühne ist Regeln unterworfen, die den Handlungsverlauf, die Aufeinanderfolge von Sprache in Dialogform und die Zeitabläufe eines Bühnenstückes bestimmen und doch ist nicht jede Vorstellung gleich.
Die Regeln werden zumeist durch eine „Was passiert, wenn…“ Folge gesetzt. Seien es Zeichen durch Stichworte, durch die ein Auftritt, oder eine Gegenrede folgt, eine Lichtstimmung wechselt, oder ein Ton eingespielt, oder ausgeblendet wird.
Dadurch entsteht ein lineares, vorhersehbares System von Signalen, welches man kontrollieren kann. Die Unschärfe, oder Verschwommenheit dieses Systems, solange es von Menschen und durch Menschen realisiert wird, sorgt aber auch für unvorhersehbare Abweichungen im Ablauf des Programms. Es besteht im Prinzip aus einer Kombination von vorhersehbaren Ereignissen und unvorhersehbaren Abweichungen (Verschwommenheit).
Mathematisch betrachtet wird eine vorhersehbare Abfolge von aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen, durch eine unvorhersehbare Anzahl von zufällig generierten Ereignissen des selben Zahlenraums in die Zahlenfolge eingeschossen.
Das unwiederholbare Ergebnis einer Vorstellung könnte zum Beispiel so dargestellt werden:
0.1.2.3.1.4.5.2.6.7.3.8.9


Hier gibt es drei unvorhersehbare Ereignisse von 1, 2 und 3 an wiederum unvorhersehbaren Stellen im Ablauf, die nichtdeterministisch, also ausserhalb der vorprogrammierten Ablaufregeln entstanden sind und zu einer Verschiebung des inhaltlichen, zeitlichen, oder auch räumlichen Ablaufs führen können.
Wenn man jede Abweichung vom vorgesehenen Programmfluss bezeichnen und beziffern würde, also etwa: 1 = Verzögerung, 2 = Texthänger und 3 = Publikumsreaktion us.w., dann wäre jede Vorstellung in ihrer Einzigartigkeit tatsächlich notierbar und es gäbe darüber hinaus den Nachweis darüber, daß es keine einzige Vorstellung gäbe, die aus der reinen, aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlenkette bestünde, die vorgesehen war. Zumindest wäre die Wahrscheinlichkeit sehr, sehr gering.
In der Kryptografie würde das bedeuten, dass man durch die Vorstellung selbst einen einmaligen Zifferncode generiert, mit der man eine Vorstellung auslesen kann, wenn man über den Übersetzungsschlüssel verfügt.
Das Entscheidende ist aber der Umstand, daß überhaupt nur innerhalb biologischer oder physikalischer Systeme echte Zufallsereignisse generiert werden können. Was man auch mit Authentizität oder Lebendigkeit übersetzen kann.
Um Zufallsereignisse technisch zu generieren, würde man Computerprogramme schreiben, die solche Signale auslösen können.
Man bekäme aber keine echten Zufallszahlen geliefert, denn Computer sind deterministische Maschinen und Pseudozufallszahlen werden durch streng deterministische Algorithmen erzeugt, sie sind also nicht zufällig. Sie haben allerdings die wichtigsten Eigenschaften von echten Zufallszahlen (Unvorhersehbarkeit, Gleichverteilung, jedoch nicht Unabhängigkeit, da in der Regel die folgende Zahl aus der aktuellen berechnet wird).
Noch bevor wir also Technologie einsetzen, um von Fortschritt durch Digitalisierung im Theater zu sprechen, könnten wir erforschen, wie uns eine digitale Betrachtungsweise analoger Ereignisse helfen kann, ein tieferes Verständnis unserer Arbeit zu erlangen und Wege zu suchen, wie man die Ängste vor jeder Art von „Unfall“ in den Abläufen verlieren lernt und damit zu einer freieren, in seinen Grundzügen „lebendigeren“, oder unvorhersehbareren Kunst zurückfindet.
Das Auswendiglernen von Texten, Choreographien, oder Arrangements allein und das Training des Ausdrucks bis zur Glaubhaftigkeit während der Proben, bis ein akzeptables endgültiges Ergebnis erreicht wurde, welches man der Öffentlichkeit in ständigen Wiederholungen als Vorstellung präsentieren kann, reicht nicht aus, um den mechanischen Wiederholungen und maschinellen Reproduktionen der Einstudierungen zu entkommen.
Wenn wir aus der Analyse etwas lernen wollen, dann sollten wir nicht mehr von „Abweichungen“ oder „Fehlern“ sprechen, sondern Zufallsgeneratoren konzipieren, die in ein Regiekonzept genauso gehören werden, wie ein Bühnenentwurf. Sie werden dafür zuständig sein, daß man jede Abweichung vom gewohnten Pfad als Gewinn betrachten lernt, um der Entmenschlichung der Theaterkunst, gerade durch die Verfahren der Digitalisierung zu entkommen.
Die Umwandlung von Ereignissen in messbare Daten entspricht im Großen und Ganzen dem Vorgang der Digitalisierung. Die Transformation analoger Ereignisse in digitale Medien, enthält weder die Analyse noch die Qualitätssteigerung. In den meisten Fällen haben wir es sogar auf mehreren Ebenen mit einem Qualitätsverlust zu tun. Die Auswertung von nicht fassbaren oder schlecht beschreibbaren Ereignissen, könnte aber durch eine von uns interpretierbare Anschaulichkeit helfen, daß wir besser verstehen, was wir eigentlich tun.  
Allein, wenn wir jedes Drama, oder jedes Textbuch als ein Programm auffassen lernen, welches versucht ein Problem zu lösen, können wir besser unterscheiden, welche Texte dabei helfen und welche nicht. Welche Textzeilen geschrieben wurden, um Fehler des Programms abzufangen und welche Routinen den Prozessor entlasten sollen. Übersetzt auf Theater hieße das, wie man die Handlung flüssig und dramaturgisch logisch durchlaufen lassen kann, ohne daß das Stück „abstürzt“.
Da der Umgang mit Problemen dabei wichtiger wird, als die vorproduzierte Lösung des Konfliktes, könnte man nun auch das Ergebnis weglassen und hätte somit eine tatsächliche Anleitung für Zuschauer, um Lösungsvorschläge zu entwickeln, da wo die Maschine Theater sie bisher für uns alle vorproduziert hatte und der Zuschauer mit Information das Theater verließ, aber nicht mit Erfolg.
Ich weiß natürlich, dass er das nicht so gern hört, da er ja zum Konsumenten erzogen wurde und nicht zum Produzenten. Aber in Verbindung mit dem gestaltenden Bewusstsein des Beobachters aus dem letzten Artikel, wird vielleicht klar, dass sein Weg in die Zukunft nicht durch die feste Bindung an seinen Sitzplatz im Theater bestimmt werden wird. Und dass er nicht mehr länger auf die vorproduzierte Lösung des Konflikts auf der Bühne hoffen sollte, denn dadurch wurde ja gerade die Lösung das Problem.